In Cisjordanien wird erstmals eine neue palästinensische Stadt gebaut. Die Initianten wollen in Rawabi ihre Vision eines                                                                   fortschrittlichen Palästina verwirklichen, kämpfen aber mit israelischen Restriktionen

Neue Zürcher Zeitung - Monika Bolliger - In Cisjordanien wird erstmals eine neue palästinensische Stadt gebaut. Der Projektumfang ist präzedenzlos. Die Initianten wollen in Rawabi ihre Vision eines fortschrittlichen Palästina verwirklichen, kämpfen aber mit israelischen Restriktionen.

Ein Knabe faltet ein Papierflugzeug und wirft es in die Luft. Es segelt in die Höhe, kreist über Häuserreihen umgeben von Grün, landet in der blitzblanken Küche einer modernen Wohnung und wird dort von einem Mädchen aufgefangen. Die zehnminütige Vision in Form eines 3-D-Filmes zeigt eine perfekt durchgeplante Stadt mit einem autofreien Zentrum, wo sich lachende Menschen begrüssen, in Cafés verweilen oder mit dem Laptop in der Hand zur Arbeit eilen. Ist Rawabi einmal fertiggestellt, sollen hier neue Wohnformen verwirklicht werden – der Traum aller Palästinenser, welche die Nase voll von den chaotischen, unorganisiert gewachsenen Städten Cisjordaniens haben.

Utopische Vision
Die Bauarbeiten auf der Anhöhe nördlich von Ramallah sind in vollem Gange. «Wir arbeiten in Schichten», erklärt Amir Dajani, der stellvertretende Direktor der Investitionsfirma Massar International, welche das Projekt zusammen mit Diar, einer Firma der katarischen Regierung, finanziert. Massar und Diar haben für den Bau von Rawabi die Bayti Real Estate Investment Company gegründet. Dajani spricht schnell und voller Elan.

Seit zwei Jahren wird gebaut, Anfang nächsten Jahres sollen die ersten 3500 Bewohner einziehen. Pläne gibt es für 25 000 Neuzuzüger, doch mit der Zeit sollen in der Stadt 40 000 Personen leben. Insgesamt belaufen sich die Projektkosten auf mehr als 1 Mrd. $. Es handelt sich um die grösste Immobilieninvestition, die in den palästinensischen Gebieten je getätigt worden ist.


Die Vision der Unternehmer ist ambitioniert: eine Stadt mit Grünflächen und Erholungsgebieten, einer Fussgängerzone im Zentrum und smarter Verwaltung, welche den Bewohnern etwa Informationen via SMS zuschickt. Ein Glasfaserkabelnetz, das die ganze Stadt abdeckt, soll überall für schnelles Internet sorgen, was den Standort für Unternehmen attraktiv macht.

Dajani träumt von einem Knotenpunkt für IT-Unternehmen und Dienstleister im Herzen Cisjordaniens zwischen Ramallah und Nablus – und auch unweit von Tel Aviv (vgl. Karte). Das Projekt begann im Jahr 2008 und beschäftigt inzwischen etwa 4500 Personen. Langfristig rechnet Dajani mit 3000 bis 5000 permanenten neuen Arbeitsplätzen.

An alles gedacht
Das Projekt Rawabi soll laut seinen Visionären einen umfangreichen Beitrag zur Ankurbelung der palästinensischen Wirtschaft leisten und auch als Beispiel dafür dienen, dass die Palästinenser in der Lage sind, eine neue Stadt mit gut organisiertem Gemeindewesen aufzubauen. Alle Vertragspartner sind Palästinenser. Von 300 Ingenieuren sind etwa ein Drittel Frauen. Ausländisches und israelisches Material und Know-how sowie internationale Best-Practice-Beispiele wurden nach Bedarf zugezogen. Palästinensische Arbeitskräfte und lokales Baumaterial haben aber Priorität.

Die Planer haben an alles gedacht. Ein Amphitheater zur freien Nutzung wird gebaut, ein Hochzeitssaal, ein Hotel mit Spa, eine Moschee, eine Kirche, Parkhäuser, auch öffentlicher Verkehr ist Teil der Vision. Ein Pilotprojekt mit elektrischen Autos ist in Planung. «Wir experimentieren mit allem, der Himmel ist unsere Grenze», sagt Dajani.

Dass die Limiten jedoch nicht erst am Himmel beginnen, wird schon bei der Anfahrt ersichtlich. Eine kleine Landstrasse ist bis jetzt die einzige Zufahrt zu Rawabi. Hier kommt die israelische Militärbesetzung ins Spiel (siehe Zusatz). Rawabi selbst liegt zwar in palästinensisch kontrolliertem Gebiet, doch das Umland, sogenanntes C-Gebiet, ist unter israelischer Kontrolle. Dort müssen Baubewilligungen bei Israel eingeholt werden. Israel lehnt palästinensische Baugesuche jedoch fast immer ab.

Betteln um Wasseranschluss
Für den Bau einer angemessenen Zufahrtsstrasse von Ramallah nach Rawabi ist seit drei Jahren ein Gesuch bei der israelischen Militärverwaltung hängig. Eine zweite Verbindungsstrasse nach Nablus im Norden würde ebenso benötigt. Die Rehabilitation der bestehenden kleinen Zufahrtsstrasse hatte sich um ein Jahr verzögert, weil es an einer Bewilligung fehlte. Erst dann konnten die Bauarbeiten überhaupt beginnen. Die zweite «Herausforderung», wie Dajani die Probleme in zeitgemässem Unternehmerjargon nennt, ist die Wasserversorgung, die ebenfalls von Israel kontrolliert wird. Derzeit hat die Stadt nur einen temporären Anschluss.

«Das Wasser ist nur 500 Meter entfernt und versorgt die Siedlung gegenüber, während wir immer noch bitten und betteln», bemerkt Bashar Masri, der Direktor von Massar International. Wegen politischer Angelegenheiten sei das Projekt zwei Jahre im Rückstand. Doch der Spross der grössten palästinensischen Unternehmerfamilien lässt sich nicht beirren. Das hohe Risiko sei ihm bewusst, doch an diesem Punkt gebe es kein Zurück. Er habe gelernt, wenn man hier Fakten schaffe, funktioniere es am Ende, meint er.

Zumal sich die Israelis gegenüber dem Projekt positiv äusserten, glaubt er, dass die sie am Ende nicht einfach eine ganze Stadt brachliegen lassen würden. Für andere Unannehmlichkeiten ist unterdessen vorgesorgt – so wurden grosse Vorräte an Baumaterial angeschafft, falls es zu politischen Unruhen kommen sollte und die israelische Armee die Versorgungswege abschneiden würde.

Träge Autonomiebehörde
Das Verhältnis zur palästinensischen Autonomiebehörde bezeichnet Masri mit einigem Sarkasmus als phantastisch. Die Autonomiebehörde sei zwar begeistert von dem Projekt. Doch sie setze andere Prioritäten. Dabei könne Rawabi ein Pilotprojekt für ein modernes Palästina sein. Masri wünscht sich finanzielle Beteiligung für die öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen. Dafür würden rund 140 Mio. $ benötigt. Bis jetzt hat sich weder seitens der Autonomiebehörde noch internationaler Geldgeber Unterstützung materialisiert – sehr zum Unverständnis Masris. Drei von acht geplanten Schulen haben die Unternehmer nun auf eigene Kosten zu bauen begonnen.

Interesse aus Katar
Masri hat in den USA gelebt und studiert. Er kehrte nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Oslo in den neunziger Jahren nach Palästina zurück – wie viele Unternehmer, die hofften, sich nun am Aufbau eines palästinensischen Staates beteiligen zu können. Obwohl Masri kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er über seine Frustration über die politische Situation spricht, jammert er nicht.

«Unser Projekt ist hier trotz der Besetzung», betont er. Die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern habe für ihn keine Auswirkungen gehabt. Selbst bezüglich des Wirtschaftsplanes, den der amerikanische Aussenminister Kerry angekündigt hat, sei er nicht konsultiert worden, sagt Masri.

Dafür hat sich Katar für das Projekt interessiert. Die Investitionsfirma Diar, welche der katarischen Regierung gehört, finanziert einen beträchtlichen Teil des Projektes. Aus unternehmerischer Sicht lohnt sich die Investition kaum. Laut Masri lag die Rendite zu Beginn des Projektes bei 8,5%, aber das Risiko sei im Verhältnis zu hoch.

Dann sank sie wegen mangelnder Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur auf 2,9%. Masri meint, Katar sehe darin ein Entwicklungsprojekt. Politische Bedingungen gebe es seitens Dauha keine. Dafür wird eines der Tore des Q-förmig gebauten Stadtzentrums (Q für Qatar) «Dauha-Tor» heissen.

Masris Vision hat auch zahlreiche palästinensische Käufer überzeugt. Rund 10 000 seriöse Anwärter hätten sich gemeldet, sagt Dajani, die Nachfrage sei grösser als das Angebot. Unter den Käufern befinden sich auch Mitarbeiter von Massar – so der 27-jährige Montaser Hamdan. Die Preise seien niedriger als in Ramallah und die Standards besser, sagt er.

Inspiration aus Israel
Er und seine Frau Yara träumen von einem bürgerlichen Leben in einer gut organisierten Gemeinde, wo der Müll nicht auf der Strasse liegen bleibt und man nicht stundenlang im Stau steckt. Yara arbeitet an der Universität Birzeit bei Ramallah. Auf dem Weg dahin gibt es einen Checkpoint, den die Armee manchmal schliesst. Dessen ist sich Yara bewusst. Doch sie meint, so sei das halt in Palästina.

Ein Blick vom Balkon des Verkaufsbüros gibt eine atemberaubende Sicht auf die halbfertigen Häuser in der hügeligen Landschaft frei. Ein bisschen erinnert die Architektur an die zwischen Jerusalem und Tel Aviv gelegene israelische Stadt Modi'in, wo sich die Planer auch inspirieren liessen. «Wir haben nichts gegen israelisches Expertenwissen. Wir haben von überall auf der Welt Inspiration geholt», sagt Masri. Nur mit Siedlern will er nichts zu tun haben. «Sie stehlen unser Land, machen uns das Leben zur Hölle. Was sollen wir von solchen Leuten lernen?»

Eines Nachts haben Bewohner der benachbarten Siedlung Ateret die grosse palästinensische Flagge vor dem Verkaufsbüro gestohlen. Masri ist froh, dass die Diebe entwischten. Er will keine Konflikte. Die Siedler suchten die Konfrontation, weil es sie ärgere, dass die Palästinenser vor ihrer Nase eine neue Stadt bauten. «Und ärgern sollen sie sich», sagt Masri. Die inzwischen erneuerte Flagge steht absichtlich auf dem höchsten Punkt von Rawabi – «damit sie für alle sichtbar ist».

Die C-Gebiete als Schlüssel für die wirtschaftliche Entwicklung
Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Weltbank sind die Restriktionen der israelischen Militärmacht in den von ihr kontrollierten Gebieten Cisjordaniens das Haupthindernis für eine nachhaltige Entwicklung der palästinensischen Wirtschaft. Israel rechtfertigt die Restriktionen hinsichtlich Bewegung, Bautätigkeit und Zugang zu Ressourcen mit Sicherheitsbedürfnissen. Die C-Gebiete, welche rund 60% Cisjordaniens ausmachen, sind nach dem Friedensvertrag von Oslo 1993 unter israelischer Kontrolle geblieben, während der Rest teilweise oder ganz von der palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert wird.

Laut Oslo hätten die C-Gebiete über den Zeitraum von fünf Jahren schrittweise an die Autonomiebehörde übertragen werden sollen. Das ist bis heute nicht geschehen. Vielmehr sind die israelischen Siedlungen in den C-Gebieten angewachsen. Die Weltbank hat die wirtschaftlichen Auswirkungen der israelischen Restriktionen für Palästinenser in diesen Gebieten untersucht.

Die C-Gebiete stellen die einzige zusammenhängende Landfläche in Cisjordanien dar. Strassenverbindungen zwischen den palästinensischen Städten führen daher zwangsläufig über die C-Gebiete. Aber auch der Grossteil an Land- und Wasserressourcen befindet sich dort. Ohne Berücksichtigung indirekter positiver Effekte schätzt die Weltbank das Potenzial für Mehreinnahmen, welche mit der Aufhebung von Restriktionen für die palästinensische Wirtschaft generiert werden könnten, auf mindestens 2,2 Mrd. $ pro Jahr. Das entspräche 23% des palästinensischen Bruttoinlandprodukts (BIP) von 2011. Wenn man die schwer berechenbaren indirekten Effekte einer Aufhebung von Restriktionen hinzunähme, käme man laut Weltbank gar auf 35% des BIP.

Selbst ohne ein effizienteres System, um Steuern einzutreiben, würde damit eine Zunahme von Steuereinnahmen von etwa 800 Mio. $ generiert, heisst es in dem Bericht. Damit liesse sich das Fiskaldefizit der Autonomiebehörde halbieren. Die Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern würde reduziert und das Vertrauen der Investoren gestärkt. Auch entstünden mehr Arbeitsplätze – die Weltbank rechnet mit einem Zuwachs von 35%.

Damit könnte der Negativtrend, der seit 2012 eingesetzt hat, umgekehrt werden. Denn während das palästinensische BIP dank Unterstützung internationaler Geldgeber und der Aufhebung einiger israelischer Restriktionen von 2008 bis 2011 eine Wachstumsrate von 9% aufwies, ist diese im vergangenen Jahr auf 5,9% und in der ersten Hälfte von 2013 auf 1,9% gesunken.

Dieser Rückgang ist laut der Weltbank auch eine Folge gesunkener Überweisungen aus dem Ausland und zeigt, auf welch tönernen Füssen die Wirtschaft steht. Der schlingernde Friedensprozess und die Beibehaltung israelischer Restriktionen haben sich schädlich auf die Aktivitäten im Privatsektor ausgewirkt. Die Weltbank empfiehlt eine Aufhebung von Beschränkungen unter Berücksichtigung der israelischen Sicherheitsbedürfnisse.

Konkret weisen die C-Gebiete ein beträchtliches Potenzial in den Bereichen Landwirtschaft, Mineralien aus dem Toten Meer, Steinbruch, Bauwesen, Tourismus und Telekommunikation auf. Israel schöpft die Ressourcen primär für die eigenen Bedürfnisse aus, was sich etwa am Wasser zeigt. Der Pro-Kopf-Verbrauch der Siedler ist wesentlich höher als jener der Palästinenser. Ein Extrembeispiel sind Siedler im Jordantal, welche Landwirtschaft mit intensiver Bewässerung betreiben und pro Kopf etwa 80 Mal mehr Wasser als die Palästinenser in Cisjordanien verbrauchen.

 

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